Thaye Dorje, Seine Heiligkeit der 17. Gyalwa Karmapa, teilt die folgende Botschaft zum Ableben von Maniwa Sherab Gyaltsen Rinpoche
Es folgt eine Abschrift der Botschaft
Liebe Dharma-Freunde,
der ehrwürdige Maniwa Sherab Gyaltsen Rinpoche – oder einfach „Lama Rinpoche“, wie er liebevoll genannt wurde – war einer der am meisten geliebten und hoch respektierten Meister innerhalb unserer Karma Kagyü Linie. Seine Lebensgeschichte und sein umfangreiches Wirken veranschaulichen eindrucksvollsein tiefes Engagement für den Buddha-Dharma und das Wohl der fühlenden Wesen.
Ich kenne Lama Rinpoche seit meiner Kindheit und seit unserer ersten Begegnung hat sich Lama Rinpoche immer um mich gekümmert, wie ein liebender Großvater, mit dem einzigen Bestreben, bis zu seinem letzten Atemzug die Wünsche des verstorbenen Shamar Rinpoche zu erfüllen. Die Erfüllung dieser Wünsche und die Verpflichtung, die er dem großen 16. Karmapa gegenüber eingegangen war, bedeutete nichts anderes, als sein Leben der Praxis des Dharma zu widmen – und Lama Rinpoche war die Verkörperung dieser Hingabe.
Nun hat seine physische Präsenz diese Welt verlassen und dieser Verlust hat bei uns allen ein Gefühl tiefer Trauer hinterlassen, ein Gefühl dafür, was es bedeutet, einen spirituellen Freund zu haben, und ein Gefühl dafür, was es bedeutet, die greifbare Manifestation eines solchen Freundes zu verlieren.
Obwohl sich die Form von Lama Rinpoche, die wir kennengelernt und an die wir uns gewöhnt haben, aufgelöst hat, wird sein Wirken sicherlich in einer Weise weitergehen, die wir uns nicht vorstellen können. Die Aktivität eines Bodhisattvas lässt nicht nach, und wenn wir genug Verdienst haben, wird sich ihre Aktivität sogar auf eine Weise manifestieren, an die wir gewöhnt sind.Während Lama Rinpoche zahllose Menschen inspirierte und ihnen half, sich mit dem Buddha-Dharma zu verbinden, war und blieb er einer der ganz wenigen, die niemals von uns erwarteten, dass wir ihn in irgendeiner Weise verehren oder vergöttern.
Seine Liebe, sein Respekt und seine Hingabe an den 16. Karmapa waren immens, jenseits von allem, was wir zu begreifen vermögen. Warum? Weil wir alle eine vorgefasste Meinung darüber haben, was Hingabe ist – und selbst wenn wir denken, dass wir Hingabe verstehen, können wir sie nicht wirklich kennen. In der Tat können wir nicht wirklich sagen, was Hingabe ist – wir können nur sagen, was sie nicht ist, und sie ist definitiv nicht Anbetung oder Vergötterung.
Liebe Dharma-Freunde, diese Zeit nach dem Parinirvana von Lama Rinpoche ist für uns keine Zeit des Feierns. Natürlich ist der Tod an sich nichts Schlechtes, und Menschen wie Rinpoche haben keine Angst vor dem Sterben; sie akzeptieren und feiern den Tod sogar auf dieselbe Weise, wie sie die Geburt akzeptieren und feiern. Aus unserer weltlichen Perspektive haben wir jedoch vorgefasste Ideen über den Tod, und deshalb kann er eine Quelle starker Emotionen sein.
Daher ist dieses Parinirvana für uns als nächste Generation keine Zeit zum Feiern, sondern eine Gelegenheit, darüber nachzudenken, was dieser Moment für uns bedeutet. Die Generation der Älteren verlässt uns, einer nach dem anderen, und wir sollten uns fragen, ob wir in der Lage sein werden, das fortzusetzen, was sie erreicht haben.
Tatsächlich wird Manjushri aus tiefgründiger buddhistischer Sicht als Junge dargestellt, weil Weisheit in der Jugend zu finden ist, aufgrund der Frische, Neugier und Willenskraft, die die Jugend verkörpert. Doch auch wenn viele der jungen Generation diese Qualitäten besitzen mögen, sollte uns das Parinirvana von Lama Rinpoche und anderen kürzlich verstorbenen Leitfiguren unserer Linie wirklich dazu bringen, uns die Frage zu stellen: „Sind wir bereit?”
Ich persönlich habe viele Zweifel, nicht an unseren Fähigkeiten, sondern daran, ob wir erfahren genug sind. Wenn ich „Erfahrung“ sage, meine ich nicht etwas Trockenes und Steriles, sondern wie viel Zeit wir in unsere Praxis gesteckt haben. Wenn wir genug Zeit in die Praxis gesteckt haben, dann wird sich alles andere ganz natürlich von selbst ergeben.
Lama Rinpoches Parinirvana ist ein hervorragender Anlass für uns, uns wirklich Zeit zu nehmen und die vielen Leitfiguren, die wir in unserer Überlieferungslinie noch haben, zu schätzen, von ihnen zu lernen und ihrem Beispiel zu folgen. Dabei geht es nicht darum, ob wir unsere buddhistischen Organisationen leiten oder unsere buddhistischen Gesellschaften unterstützen können. Es bedeutet, ihrem spirituellen Beispiel zu folgen, oder ihrem Beispiel des Praktizierens, denn Lehrer wie der verstorbene Lama Rinpoche und seine Kollegen sind Vorbilder, die in der Lage waren, die Praxisbeispiele ihrer eigenen Ältesten umzusetzen.
Das ist der Kern des Ganzen, denn egal wie viele Klöster und Dharma-Zentren wir gründen, sie werden nur ein weiteres Unternehmen, eine weitere Organisation sein. Wir werden eine Fülle von Hilfsmitteln haben, aber wir werden nicht wissen, was wir mit ihnen anfangen sollen.
Was also den Verlust angeht – werden wir unseren kostbaren Lama Rinpoche wirklich verlieren? Ich denke, wenn wir nicht in der Lage sind, die Praxis so anzuwenden, wie er und seine Vorgänger es taten, ist es dasselbe, als würden wir ihn für immer verlieren. Aber wenn wir in der Lage sind, neugierig und nachdenklich zu sein, zu beobachten und aufmerksam zu sein, dann besteht vielleicht die Hoffnung, ihn nicht wirklich zu verlieren.
Daher denke ich, dass die wahre Lehre von Lama Rinpoches Parinirvana darin besteht, dass die Dharma-Praxis der Schlüssel ist, und es ist auch eine Erinnerung daran, dass es bald keinen qualifizierten spirituellen Freund mehr geben wird, der uns überprüft, ob wir praktizieren oder nicht, oder ob unsere Praxis in die richtige Richtung geht. Die Generation der wahren Praktizierenden wird immer dünner, also liegt es an uns zu prüfen, ob wir praktizieren und ob wir gut praktizieren.
Wenn wir jedoch wissen, dass wir praktizieren, und vor allem, wenn wir Freude an der Praxis haben, wie der verstorbene Lama Rinpoche und seinesgleichen, dann haben wir meiner Meinung nach nicht viel zu befürchten. Ob es gute Tage geben wird oder nicht, ob es gutes Wetter geben wird oder nicht, ob die kommende Jahreszeit gut sein wird oder nicht – solange wir die Praxis genießen, wird das alles nicht viel ausmachen.
Mit Gebeten,
Thaye Dorje, Seine Heiligkeit der 17. Gyalwa Karmapa

