Was ist der Kern des Dharma?
Was ist der Kern dieser Praxis, die wir machen wollen?
Es ist die Entwicklung von Liebe und Mitgefühl.
Ein Traum, ein Foto, ein freundschaftlicher Rat, offene Türen, die Ankündigung einer Konferenz, die Suche nach Sinnhaftigkeit … so viele Wege, die mehrere Generationen von Menschen zu Lama Gendun Rinpoché gebracht haben. Vom ersten Moment an gibt es für die meisten eine immense innere Veränderung, die den Lebensweg verändert, so die vielen Berichte, die die Begegnung mit diesem Meditationsmeister beschreiben. In einem kurzen Gebet an Gendun Rinpoche, das auf Wunsch westlicher Schüler im Oktober 1984 von Künzik Shamarpa verfasst wurde, heißt es:
Der Strom seines Mitgefühls ergießt sich über die dafür empfänglichen Lebewesen. [1]
Am 31. Oktober 1997 ging dieser kostbare Meister „Juwel der Gemeinschaft, in seinem Zimmer in Dhagpo Kundreul Ling in das Paranirvana über, nachdem er 22 Jahre unerlässlich den reinen und authentischen Dharma im Westen gelehrt hatte. Dies alles den Anweisungen seines Wurzellamas, dem 16. Gyalwa Karmapa Rangjung Rigpé Dorjé, folgend, den er bereits im Alter von 13 Jahren kennengelernt hatte. Zu einer Zeit also, als der Karmapa noch ein kleines Kind war.
Zehn Tage zuvor, am 22. Oktober 1997 nahm Rinpoche an den Zeremonien zum Ende des Drei-Jahres-Retreat der 4. Generation von Retreatlern im nicht ganz fertiggestellten großen Tempel teil. Die tausend Buddhas waren gerade erst in ihre Nischen gestellt worden. Er segnete die 104 Retreatler, Männer und Frauen, und über 1000 Anwesenden, die zu diesem Anlass gekommen waren, darunter Lamas und Drouplas, die bereits vorher Retreats gemacht hatten.
Seit seiner Kindheit hatte Gendun Rinpoche ein tiefes Streben nach Spiritualität. Seinen Wünschen entsprechend kam er im Alter von 7 Jahren in ein Kloster, wo er mit großen Meistern meditieren lernte, mit 17 Jahren die Mönchsgelübde erhielt und mit 21 Jahren ein traditionelles Drei-Jahres-Retreat begann. Nach dem Ende dieses Retreats unternahm er Pilgerreisen zu den heiligen Stätten Tibets und Nepals und war dann insgesamt fast 30 Jahre lang im Einzelretreat in Tibet, dann in Bhutan und – nach der gefährlichen Flucht aus Tibet 1959 – in Indien.
Eines Abends lud der 16. Karmapa, nach seiner ersten Reise in den Westen, Lama Gendun Rinpoche auf die Terrasse seiner Residenz in Rumtek (Sikkim) ein.
In einem Interview mit Lama Tsony, das im Mai 1994 aufgezeichnet wurde, berichtete Lama Gendun Rinpoche von den Anweisungen, die er damals vom 16. Karmapa erhielt – Anweisungen, die den Lauf seines Lebens verändern sollten.[2]
Du musst jetzt in den Westen gehen. Dort musst du Segnungen, Initiationen und Dharma-Lehren geben. In Europa angekommen, musst du einen Tempel, ein Kloster und ein Retreat-Zentrum errichten und den Dharma lehren. Du darfst dich nicht auf ein Land beschränken, sondern musst den Dharma überall verbreiten. Auf diese Weise können viele Menschen mit dem Buddhismus in Berührung kommen und Vertrauen in ihn entwickeln. Die Zeit ist reif, und man muss zum richtigen Zeitpunkt handeln. Menschen haben starke Emotionen, und die Situation kann sich schnell ändern. Wir geben den Menschen die Möglichkeit, ihre Emotionen zu verstehen, zwischen Positivem und Negativem zu unterscheiden und so zum Wohle der Menschen zu handeln. […] Es ist äußerst wichtig, zum Wohl der Wesen zu handeln und den Dharma überall einzuführen. Wenn uns das gelingt, wird das Leid minimiert.
Lama Gendun Rinpoche erinnert sich, dass er sprachlos war.
„Warum ich? Ich bin ein alter Mann, und der Karmapa hat mir so viel Verantwortung übertragen. „Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte.“ Der Karmapa erkannte seine Gedanken:
Die Zeit ist reif, und du hast das richtige Karma. Du wirst alles erreichen können. Vertrau mir, ich bin der Karmapa.
Seine Heiligkeit segnete ihn und gewährte ihm alle Übertragungen und den Segen der Linien und machte ihn so zu einem Linienhalter. „Noch heute treibt es mir Tränen in die Augen“, sagte Rinpoche.

So kam es, dass eines Tages im August 1975 der damals 57-jährige Lama Gendun Rinpoche in Begleitung von Lama Purtsé in dem baufälligen Bauernhaus in Landrevie ankam, das weder einen Ofen noch Heizung hatte. Lama Jigmé Rinpoche war seit Mai 1975 dort. Lama Gendun Rinpoche begann zu lehren: die vorbereitenden Übungen des Mahamudra, die Praxis von Tschenresi, Amithaba, das Sieben-Zweige-Gebet, die Paramitas, die kostbare Girlande des Höchsten Pfades von Gampopa usw. Nach und nach kamen Leute, blieben, lernten, praktizierten und begannen zu renovieren und zu bauen.
Ab 1980 reiste Gendun Rinpoche außerdem mit Lama Jigme Rinpoche in verschiedene Städte Frankreichs, um dortige Studierende bei der Schaffung städtischer Zentren ( in Frankreich KTT) zu unterstützen, wo er im Laufe der Jahre weiterhin regelmäßig Belehrungen gab. Er bereiste auch verschiedene europäische Länder, darunter Deutschland, die Niederlande, Griechenland, Italien, Österreich, Belgien und England. In Dhagpo Kagyü Ling bereitete er seine Schüler auf das Drei-Jahres-Retreat vor, indem er Belehrungen und Ermächtigungen gab, mit dem Ziel, LehrerInnen auszubilden, die wiederum den kostbaren Dharma lehren konnten.
Mit zunehmendem Alter machte er sich Sorgen um die Schwierigkeiten Retreatzentren zu gründen, bis sich im Herbst 1983 eine Gelegenheit ergab: Der Verkauf eines Anwesens in der Gemeinde Biollet, das dem Autor und Filmemacher Arnaud Desjardins gehörte. Dessen Arbeit hatte maßgeblich dazu beigetragen, die Weisheit tibetischer Meister der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Der Ort trug bereits starke spirituelle Wurzeln , da es ein von A. Desjardins gegründetes Zentrum der Lehre und Meditation gab. Der 16. Karmapa hatte dort zweimal die Schwarze-Krone-Zeremonie abgehalten, und auch Dilgo Khyentse Rinpoche und Dudjom Rinpoche hatten dort übernachtet.
Die zukünftigen Retreatler machten sich rasch an die Arbeit, das Gebäude herzustellen. Am 17. März 1984 begann das erste traditionelle Retreat von drei Jahren, drei Monaten und drei Tagen mit 15 Männern und 5 Frauen.
Der Zweck dieser Art von Retreat ist es, uns zu befähigen, anderen zu helfen und das wahre Ziel unseres Lebens zu erreichen, das vollständige Erwachen. […] Dieses Retreat ist eine große Hilfe dabei, den Weg zur tiefen Meditation zu finden, die egoistischen Tendenzen aufzulösen, die wir über Äonen angesammelt haben, und Mahamudra zu verwirklichen, erklärte Lama Gendun. [3]
Mit grenzenloser Energie und spiritueller Großzügigkeit leitete Lama Gendun dieses Retreat und die beiden darauffolgenden vollständig. Fast täglich ging er zum Drupkang, um Belehrungen, Ermächtigungen und Ratschläge zu geben, und schien dabei genau zu wissen, was in den Köpfen aller vorging. Immer mehr Praktizierende äußerten den Wunsch, ein solches Retreat zu absolvieren, und auf dieser Grundlage entstanden neue Retreatzentren und Klöster für Männer und Frauen. Lama Gendun begleitete so fast 300 Menschen durch diese Ausbildung in den tiefgründigen Methoden des Vajrayana. 1994 begann das vierte Retreat, dessen Leitung er seinen langjährigen Studierenden anvertraute, während er ihnen zur Seite stand.

Er unterrichtete weiterhin bis August 1997 mehrmals jährlich in Dhagpo Kagyü Ling, wo er mehrere Tage die wesentlichen Stufen des buddhistischen Pfades lehrte und dessen Quintessenz vermittelte. Er gab sowohl Neuankömmlingen als auch seinen langjährigen Studierenden spirituelle Ratschläge. Zum Beispiel:
Das Gefühl der Demut, Gleichheit und des Mitgefühls gegenüber allen Wesen muss der Eckpfeiler unseres Pfades sein.
Dies sollte seine letzte Unterweisung sein.
Mit seinem Beispiel und seiner Verwirklichung hat Lama Gendun Rinpoche Generationen von Praktizierenden inspiriert. Künzig Shamarpa schrieb über ihn: „Lama Gendun von Chödrak ist ein verwirklichter Weiser, der die Anhaftung an Gewinn und Ehre sowie Ehrgeiz überwunden hat. Der Beweis dafür sind die wiederholten Lobeshymnen des Buddha Karmapa selbst auf seine spirituellen Qualitäten.[4] Heutzutage ist es äußerst selten, jemanden wie ihn zu finden, der in der Lage ist, individuelle Praxisunterweisungen zu geben, die den Bedürfnissen jedes einzelnen Praktizierenden gerecht werden. Dies, zusammen mit der Fähigkeit, seine Studierenden durch seine Ausstrahlung wahrhaftig zu verwandeln, stellt den Beweis seiner Vollkommenheit dar.“
Zu Beginn des Tschenresi-Kurses im Oktober 2018 verwendete Lama Jigme Rinpoche das Beispiel von Lama Gendun Rinpoche, um zu erklären, was es bedeutet, im ungekünstelten Zustand unseres Geistes zu verweilen. Hier ist, was er sagt:
Warum schickte der 16. Karmapa Gendun Rinpoche nach Europa? Damit die Europäer ein Beispiel dafür haben, was es bedeutet, eine vollendete Praxis zu haben. Sonst verstrickt man sich leicht in Fantasien und Vorstellungen. Indem er Gendun Rinpoche hierher schickte, gab uns Karmapa dieses Beispiel, um uns zu zeigen, dass es für einen Menschen möglich ist, die Praxis zu vollenden. Er ermutigte uns auch, indem er uns zeigte, dass wir uns nach seinem Bild entwickeln können, wenn wir praktizieren. Wir können daher in unserem gewöhnlichen samsarischen Leben verbleiben und gleichzeitig das Ergebnis der Praxis verwirklichen. Karmapa gab uns in der Person von Gendun Rinpoche ein Beispiel für das Ziel, das ein Dharma-Praktizierender erreichen kann.
Gendune Rinpoche kehrte nie wieder nach Indien oder Tibet zurück. Im Moment seines Parinirvanas erhielt man die Erlaubnis, seinen Leichnam in Dhagpo Kundreul Ling aufzubewahren und dort 49 Tage lang traditionelle Bestattungsrituale durchzuführen. Dann wurde, vorher undenkbar, auch die Einäscherung vor Ort genehmigt und ein Grabstupa errichtet, der von Rinpoches außergewöhnlichen Präsenz zeugt. Shamar Rinpoche und Jigme Rinpoche führten das Jinsek (Feueropfer) und die Gyalwa Gyamtso Praxis durch, während seine westlichen Schüler die Korlo Demchok Praxis und Dorje Pamo Praxis durchführten. Dadurch stärkten sie ihre Verbindung zu ihm und schufen die Voraussetzungen für künftigen Segen.
Lama Jigme Rinpoche erklärte:
Über die Traurigkeit hinaus verbindet uns Rinpoches Abschied. Er verbindet uns mit der Linie, mit den Meistern der Vergangenheit, und er verbindet uns auch miteinander. So ist es in der Kagyü-Linie, deren Erben wir sind: Der Lama lässt uns den Weg allein fortsetzen, weil wir bereit sind. […] Es ist unsere Aufgabe, dem Beispiel des Lamas zu folgen und in der Praxis präsent zu halten, was er uns übermittelt hat. Unser Geist und sein Geist sind dann untrennbar.
(Tendrel, Nr. 45)
Gendun Rinpoches Güte, Mitgefühl, Einfachheit, Freude und Lachen – allesamt Ausdruck seiner Verwirklichung – haben sich in die Herzen aller Praktizierenden eingebrannt, die seinen Weg kreuzten. Dank dieser Eigenschaften war Gendun Rinpoche in der Lage, zahlreichen Studierenden in Europa die tiefgründige und authentische Lehre zu vermitteln, ohne Unterschied zwischen Männern und Frauen. Die Grundlagen, die er legte, um Lebewesen zum Erwachen zu führen, ihnen Verständnis und die Mittel zur Befreiung vom Leiden zu vermitteln, schlagen dank der Aktivitäten des 17. Gyalwa Karmapa Thaye Dorje, Künzig Shamarpa und Jigme Rinpoche weiterhin Wurzeln. Künzig Shamarpa erkannte Gendün Rinchen als seine Reinkarnation an. Die Reise zur Begegnung mit der Weisheit Buddhas geht weiter …
[1] Premières rencontres. Autour de Guendune Rinpoché. Publication KTL, octobre 2017.
[2] Gendun Rinpoche. A Buddhist Master Remembers. Vienna Dharma Projects, 2022.
[3] Gendun Rinpoche. Heart Advice from a Mahamudra Master. Norbu Editions, 2010
[4] Colophon de la prière à lama Guendune, composée par Künzik Shamar Rinpoché.
Diese Fotos stammen aus unseren Archiven oder wurden im Rahmen der Recherchen zum 50-jährigen Jubiläum von Dhagpo Kagyu Ling gesammelt. Wir konnten nicht alle Urheber identifizieren. Die Nutzung der Fotos dient ausschließlich Informationszwecken im Kontext der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum von Dhagpo Kagyu Ling. Ihre Verwendung ist auf diesen Anlass und unsere Website beschränkt und erfolgt nicht zu kommerziellen Zwecken.
Veranstaltung
Zur Feier dieses Ereignisses finden am Freitag, den 31. Oktober im Dhagpo Kagyu Ling Institut verschiedene Praktiken und Lehrveranstaltungen von Gendun Rinpoche statt.
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